Friday, August 24, 2012

Schlaflied / Lullaby (Rainer Maria Rilke)

Einmal wenn ich dich verlier, 
wirst du schlafen können, ohne 
dass ich wie eine Lindenkrone 
mich verflüstre über dir? 

Ohne dass ich hier wache und 
Worte, beinah wie Augenlider, 
auf deine Brüste, auf deine Glieder 
niederlege, auf deinen Mund. 

Ohne dass ich dich verschließ 
und dich allein mit Deinem lasse 
wie einen Garten mit einer Masse 
von Melissen und Stern-Anis.


If ever I should someday lose you,
will sleep still come to you without
me whispering above you, soft
as linden branches in the wind?

Without me lying here awake
and laying down, almost like eyelids,
tender words upon your breasts,
upon your limbs, upon your mouth?

Without me locking you up tight
and leaving you with what is yours,
a garden overflowing with
star anise and with lemon balm?

Wednesday, August 22, 2012

Die Gazelle (Rainer Maria Rilke)

Gazella dorcas

Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals

das Haupt im Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


Enchanted one! How can the chord of two
well-chosen words attain the perfect rhyme
that comes and goes, as at a sign, in you?
Up from your brow the leaves and lyre climb,

and all that's yours yet moves in simile
through love-words tender as the leaves of roses
that, as one tires of reading poetry,
are laid upon the eyelids that he closes

so as to see you: borne as though a spring
at every step were loaded with a leap,
held back while the slim neck in listening

uplifts the head, as when in forest deep
a bather rises startled from her place,
the forest pool within her turning face.

Tuesday, August 7, 2012

Das Stunden-Buch / The Book of Hours, 6 (Rainer Maria Rilke)

Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,
um jede Stunde zu weihn.
Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,
um vor dir zu sein wie ein Ding,
dunkel und klug.
Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten
die Wege zur Tat;
und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,
wenn etwas naht,
unter den Wissenden sein
oder allein.
Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,
und will niemals blind sein oder zu alt,
um dein schweres schwankendes Bild zu halten.
Ich will mich entfalten.
Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild, das ich sah,
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichsten Sturm.


I am too alone in the world, and yet not alone enough
to consecrate every hour.
I am too small in the world, and yet not little enough
to be in your eyes like a thing,
dusky and shrewd.
I want my will and I want to go with my will
on the way to the act;
and want in the silent, somehow hesitant times
when something draws near
to be among those who perceive it
or be alone.
I want to reflect you always in your full likeness,
and want never to be blind or too old
to hold your heavy, wavering image.
I want to unfold.
I want nowhere to remain folded,
since where I am folded, there I am false.
And I want my meaning
true before you. I want to describe myself
like a painting that I looked on
long and closely,
like a word I comprehended,
like my daily jug of water,
like the face of my mother,
like a ship
that bore me
through the most deadly of storms.